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Das Schiff
Das Segelschiff „Thor Heyerdahl“ hat eine bewegte Geschichte. Vor mehr als 75 Jahren vom Stapel gelassen, führten sie Reisen als Frachtmotorsegler bis nach Südafrika und in die Karibik. In den Jahren 1979 bis 1983 wurde das Schiff in Kiel zu einem Toppsegelschoner umgebaut und war bis 2007 als Jugendsegler auf den Weltmeeren unterwegs. Nach einer Generalüberholung von 2007 bis 2009 zählt es zu den modernsten Traditionsseglern weltweit und ist in der Mission „Klassenzimmer unter Segeln“ unterwegs. Auf dem Ozean ist sie ein genauso erfahrener „Seebär“ wie Kapitän Detlef Soitzek, der gelassene Ruhe ausstrahlt. Seit mehr als 25 Jahren steht der Segler im Dienst der Jugendbildung und hat rund 20.000 junge Menschen auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben begleitet. Er wird von den Institutionen „Segelschiff Thor Heyerdahl e.V.“ und Segelschiff Thor Heyerdahl GmbH getragen. Der Dreimaster ist 49,83 Meter lang und 6,51 Meter breit. Er hat 2,95 Meter Tiefgang und die Masten ragen 29 Meter in die Höhe. Es erfordert schon Mut und Schwindelfreiheit, um dort hinaufzuklettern und die Segel zu setzen. Natürlich steht Sicherheit auch da an erster Stelle und die Jugendlichen werden bei ihren Arbeiten in luftiger Höhe mehrfach abgesichert. Gezwungen hinaufzuklettern wird übrigens niemand. Ganz im Sinne des Abenteurers und Forschers Thor Heyerdahl, der dem Schiff den Namen gab, folgt die Route den Spuren von Alexander von Humboldt und Christoph Columbus. Die Reise beginnt in Kiel und geht über das britische Falmouth, wo erstmals angelegt wird, bis nach Teneriffa. Weiter geht es dann nach Panama, wo die Jugendlichen einige Tage bei Ureinwohnern verbringen, über Kuba bis zu den Bahamas. Von dort über die Azoren zurück nach Deutschland. Ausgelaufen ist das Schiff am 16. Oktober, geplante Rückkehr nach Kiel ist am 26. April 2015. An Bord sind 34 Schüler, vier Lehrkräfte und zehn Mann Stammbesatzung.
Das Konzept
Die Reise beginnt mit Reparatur und Instandhaltungsarbeiten des Bootes an Land. Während dieser ersten Phase stehen die seglerischen Grundkenntnisse, wie welche Tampen (Seile) nutze ich, wofür, welche Knoten gibt, es und vieles mehr im Vordergrund. Auch nautisches Wissen wie Kartenlesen, Orientierung, welche Lichter nachts angemacht werden und was sie bedeuten, wird auf der ersten Etappe vermittelt. Das Konzept heißt nämlich nicht nur „Lernen unter Segeln“ sondern vielmehr „Lernen und Arbeiten unter Segeln“. Denn die Teenager müssen vom ersten Moment an mit anpacken. Unter Aufsicht und Anleitung der rund zehnköpfigen Stammbesatzung und des Kapitäns Detlef Soitzek werden sie in einzelne Schichten eingeteilt. Das gilt gleichermaßen für Arbeiten an Bord, Wache in Drei-Stunden-Schichten, Putzen oder auch Backschaft, das heißt Küchendienst in der Kombüse. Danach, beginnend mit der etwa vierwöchigen Atlantiküberquerung, wird täglich „normal“ unterrichtet. Dazu zählen Hauptfächer wie Deutsch und Mathematik, die Sprachen Spanisch und Englisch sowie Geografie, Biologie, Geschichte, Politik und Wirtschaft, Kunst und Musik. Das Besondere ist die Vermengung von Theorie und Praxis. Das heißt, die Mathematik wird zum Beispiel auf die Navigation praktisch angewandt, Sprachen können geübt werden, sobald die Teenager das Schiff verlassen und in fremden Ländern an Land gehen. Referate in Biologie, zum Beispiel über Delfine, oder in Geologie über Vulkanologie erhalten einen ganz neuen Realitätsbezug, wenn sie hautnah erlebt werden können. Wissen verwandelt sich von „spröden Lernstoff“ zu aufregendem Erlebten und bekommt damit mehr Dynamik. Der Sinn des Lernens wird greifbarer und damit interessanter.
Der Weg ins Erwachsenenleben
Das pädagogische Konzept, das hinter dem Projekt steckt, hat aber nicht nur eine optimale Vermittlung von Lernstoff im Visier, sondern vielmehr geht es bei dieser Reise um die Bildung der Persönlichkeit. Die jungen Menschen, die sich gerade durch die Pubertät in das Erwachsenenleben kämpfen, werden in ihrer Persönlichkeit gefördert und gefordert. „Erziehung durch die See, nicht für die See“, so lautet die Devise. Denn an Bord sitzen alle im wahrsten Sinne des Wortes in einem Boot. Von jedem Einzelnen wird sorgsames, konzentriertes und verantwortungsvolles Verhalten in Bezug auf das Schiff und die Gemeinschaft erwartet. Teamgeist und soziale Kompetenz, Rücksichtnahme, die Fähigkeit, Konflikte zu lösen, und engagierte Einsatzbereitschaft, auch während der Landgänge, werden gefordert. Auf der Rückfahrt übernehmen die Trainees das Kommando an Bord und die Stammbesatzung greift nur noch im Notfall helfend ein.
Zu Besuch an Bord
Geladene Gäste hatten am vergangenen Sonntag, 16. November, die Möglichkeit, das Schiff und seine ungewöhnliche Besatzung kennenzulernen und für rund zwei Stunden mitzufahren. Mit an Bord war auch die Witwe von Thor Heyerdahl, Jaqueline. „Thor war immer sehr darum bemüht, die Jugend zu animieren, die Welt zu erforschen und Neues zu entdecken. Er hat das Boot sogar früher selbst besucht und einmal sind wir für ein paar Tage mitgefahren“, erinnert sie sich. Sie genoss die kleine Rundfahrt zusammen mit ihrem Sohn Sergio und Enkeltochter Laura. In erstaunlich gutem Spanisch begrüßten zwei Schüler die Gäste an Bord. Sie erzählten von ihrer Nacht in der Schutzhütte auf dem Teide und dem Anstieg im Morgengrauen, um den Sonnenaufgang zu erleben. „Es war phänomenal“, so ihr einstimmiges Urteil. Ein Saxofontrio begrüßte die Anwesenden auf musikalische Weise und eine kleine Folkloregruppe aus Garachico setzte ein kanarisches Volkslied dagegen. Dann hieß es „Segel setzen und los geht’s“. Zeit, sich an Bord umzuschauen und mit den Teilnehmern zu sprechen. „Es ist ganz erstaunlich, wie sich die Jugendlichen in diesen sechs Monaten in ihrer Persönlichkeit entwickeln. Sie gewinnen an Selbstvertrauen, weil ihnen Fähigkeiten und Verantwortung zugetraut werden und sie erleben, dass sie das tatsächlich können. Durch die Begegnung mit anderen Kulturen und Lebensformen erweitern sie ihren Horizont. Unsere Teilnehmer sind zum Beispiel später bei freiwilligen sozialen Jahren im Ausland immer ganz vorne mit dabei“, erklärt Dr. Ruth Merk, die das Konzept des Klassenzimmers unter Segeln entwickelt hat. „Wir beobachten auch, dass die Jugendlichen danach an Leistungsbereitschaft dazugewonnen haben, ihre Zeit besser einteilen und gezielter nutzen können. Sie werden zielstrebiger. Ein Vater hat mir einmal gesagt: ‚Dieses Geld war gut angelegt. Danach wusste mein Sohn, was er wollte und das hat mir später viel Geld gespart.‘ Tatsächlich entwickeln die jungen Leute durch den Sprung, den sie in der Persönlichkeitsbildung machen, auch Perspektiven für ihr eigenes Leben“, erzählt die Initiatorin weiter. An Bord gibt es wenig Zerstreuung und so ist die Begegnung mit sich und den anderen unausweichlich. „Hier sind schon viele Freundschaften fürs Leben entstanden“, weiß Dr. Ruth Merk weiter zu berichten. Das geht aus Nachtreffen und der engen Verbundenheit der „Ehemaligen“ mit dem Schiff hervor. Oft helfen sie später auch mit, den Stipendientopf aufzufüllen, damit diese Erfahrung nicht nur Kindern wohlhabender Familien möglich ist. Auch auf dieser Fahrt sind wieder fünf Stipendiaten dabei. „Ich nehme eine Einschätzung der Jugendlichen vor und nach der Reise vor und werde auch in Kuba bei Landgängen dazustoßen. Die Entwicklung der Persönlichkeit ist auch aus psychologischer Sicht sehr spannend“, erklärt Trixie, die als wissenschaftliche Assistentin an dem Projekt beteiligt ist. Gemeinsam mit Dr. Merk überlegt sie auch, welche positiven Aspekte des Lernens an Bord in den normalen Schulalltag übertragen werden können. Die soziale Kompetenz zu stärken ist ein großes Anliegen, das nicht nur auf einem Schiff wünschenswert ist. „Es ist erstaunlich, wie sich diese Gemeinschaft positiv auswirkt. Letztes Jahr hatten wir eine Legasthenikerin dabei und es fand sich automatisch immer jemand, der ihr alles vorgelesen hat. Und als wir jetzt auf den Teide-Gipfel gestiegen sind, waren die Sportlichen natürlich zuerst oben. Aber sie kamen zurück und haben den Kollegen mit weniger Kondition die Rücksäcke getragen, damit sie auch rechtzeitig zum Sonnenaufgang ganz auf dem Gipfel standen“, freut sich Dr. Ruth Merk über den Zusammenhalt.
„Brechunfall“
Die Stimmung an Bord scheint gelassen und fröhlich. Und das, obwohl Kapitän Soitzek bestätigt, dass sie wegen heftigen Seegangs mit dreitägiger Verspätung in Santa Cruz eingelaufen sind. Widrige Wetterbedingungen im Englischen Kanal und in der Nordsee mit meterhohen Wellen haben die Fahrt nur langsam vorankommen lassen. Dreiviertel der Besatzung waren seekrank. Die Jugendlichen wurden gleich zu Beginn an ihre psychische „Brechgrenze“ gebracht. Auf Teneriffa konnten die Teenager neue Kräfte sammeln. Obwohl die geplante Zeit in Gastfamilien der deutschen Schule leider gestrichen werden musste, begrüßte Vizedirektor Martin Deckert die Crew besonders herzlich und nahm mit seiner Familie gerne an der kleinen Spazierfahrt teil. Die Teenager genossen den Aufenthalt auf Teneriffa in der verkürzten Form. Sie waren auf dem Teide-Gipfel und wurden zu einer Feier anlässlich des 100. Geburtstags von Thor Heyerdahl bei den Pyramiden von Güímar empfangen. Außerdem brachte die psychologische Assistentin Trixie, die auf Teneriffa dazustieß, Post aus Deutschland mit. „Das war ein richtiges Fest, glänzende Augen, wie zu Weihnachten, als die Briefe von zu Hause verteilt wurden. Alle haben sich in eine Ecke verdrückt und die Nachrichten aus der Heimat gelesen“, erzählt sie. Der „gute alte Brief“ erfährt in solchen Momenten einen besonderen Stellenwert.
Aus der Sicht der Jugendlichen
Mit 15 Jahren ist Lorenz einer der Jüngeren an Bord. Allerdings ist er auch einer der wenigen, die Segelerfahrung haben. „Ich lebe mit meiner Familie zwar in Bayern, aber eigentlich kommen wir aus Norddeutschland und im Sommer gehen wir immer auf Segeltörn“, erzählt er. Für ihn ist dieser Ausflug die Erfüllung eines großen Traums. Es ist nicht nur ein Abenteuer, sondern er sieht auf den Weltmeeren seine Zukunft. „Ich möchte Nautiker werden und auf Handels- oder Kreuzfahrtschiffen Kapitän werden“, das steht für ihn fest. In kleinen Vier- und Sechsbettkajüten leben die Teenager auf sehr engem Raum zusammen. „Wir wechseln auch regelmäßig durch, sodass wir die Kabine immer mit anderen teilen und uns dabei besser kennenlernen. Hier an Bord muss man lernen, Konflikte gleich zu lösen. Man kann sich nicht aus dem Weg gehen“, erzählt er. „Kochen konnte ich vorher auch nicht, aber hier muss jeder ran. Immer vier Leute haben Backschaft, das heißt Küchendienst. Dann ist man von allen anderen Aufgaben befreit, aber muss den ganzen Tag für die Verpflegung sorgen. Ein Erwachsener ist immer dabei. Jeder von uns musste vor Fahrtantritt drei Rezepte lernen“, berichtet er weiter. „Ich wusste gar nicht, dass Gemüse schneiden so gefährlich sein kann. Vor allem bei Wellengang. Ich habe mir gleich in die Finger geschnitten“, ergänzt eine Mitseglerin. „Toll ist, dass in der Küche Musik gehört werden darf. Das ist ansonsten aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt“, weiß eine andere Teilnehmerin. In den Schichten wird immer darauf geachtet, dass das Kräfteverhältnis ausgeglichen ist. Die Mädchen müssen genauso ran wie die Jungs. Alle machen alles, in ständigem Wechsel. Es gibt an Bord noch eine Messe, wo gegessen wird, und eine Bibliothek, die jeder für die Dauer der Fahrt mit seinen drei Lieblingsbüchern bereichert. Ansonsten bleibt der Blick auf den Atlantik und vielleicht ein gemeinsam angestimmtes Lied. Am Montag, 24. November, hieß es auf der „Thor Heyerdahl“ endgültig „Klar vor – rund achtern“, was so viel heißt, wie Fertigmachen zum Ablegen und Davonsegeln. Und das tat sie dann auch mit stolzen Segeln im Wind und abenteuerlustigen Jugendlichen voller Tatendrang an Bord. Sie sind auf einer großen Reise zu neuen Ufern und zu sich selbst. In diesem Sinne „allseits gute Fahrt“ und „Mast und Schotbruch“, wie es bei den Seglern heißt, und das in jeder Hinsicht. Wer die Fahrt oder die Logbucheinträge mitverfolgen möchte, kann dies unter www. kus-projekt.de tun.
Von Sabine Virgin